Anstandsdame

Eine Anstandsdame wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts von der Familie in den gehobenen Gesellschaftsschichten einer jüngeren, alleinstehenden Frau zugesellt, um diese anzuleiten und auf den rechten Pfad zu bringen. Die meist ältere Anstandsdame achtete bei ihrem unverheirateten weiblichen Schützling auf Anstand, wohlfeiles Benehmen und die Einhaltung der Etikette, vornehmlich bei Begegnungen mit Personen des männlichen Geschlechts. Theoretisch durfte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine unverheiratete Dame aus gutem Haus eben jenes nur in Begleitung verlassen. Da Vater, Mutter oder ältere Geschwister nicht immer zur Verfügung standen, übernahm diese Funktion eine Anstandsdame.

Der Begriff Anstandsdame ist inzwischen nicht mehr gebräuchlich, zumal diese Tätigkeitsbezeichnung von den jungen Leuten gern als Anstandswauwau ironisch verunglimpft wurde. Sogenannte Anstandsdamen gibt es trotzdem nach wie vor - als moralische Beschützerinnen. Sie werden meist diskret von der auf ihr gutes Image bedachten eigenen Familie eingesetzt und haben die Aufgabe einzugreifen, sollte ein Stelldichein aus dem Ruder laufen. Als Anstandswauwau wird inzwischen jede Begleitperson bezeichnet, die meist passiv als moralischer Aufpasser und Beobachter tätig wird. Das kann auch eine besorgte Freundin sein, die ein waches Auge auf eine amouröse Anbahnung hat und später bezeugen kann, dass nichts Ungebührliches passiert sei.

Im Roman "Zimmer mit Aussicht" von Edward Morgan Forster sowie in der gleichnamigen Verfilmung von James Ivory wird die Anstandsdame durch Charlotte Bartlett (Maggie Smith) verkörpert, die durch ihre Präsenz die Keuschheit der jungen Lucy Honeychurch (Helena Bonham Carter) schützen will. Kurioserweise bewirkt sie durch ihre Maßnahmen genau das, was sie zu verhindern trachtet. Eine liebevolle Komödie über die umstrittene Notwendigkeit einer Anstandsdame ist der Film "Charleys Tante" von Brandon Thomas, dessen literarisches Vorbild das Jugendbuch "Anstandswauwau" der schottischen Schriftstellerin Joan Lingard war. Auch die Erziehungsbemühungen von Professor Higgins bei Eliza Doolittle im Broadway-Musical "My fair Lady" passen in dieses Genre.

In der Erotikbranche ist eine Aufpasserfunktion für Anfängerinnen hilfreich und nützlich. Junge Begleitdamen werden behutsam in die Künste der Konversation eingeführt. Sie erhalten von der erfahrenen Aktrice Tipps und Tricks, wie ein Abend für alle Beteiligten angenehm gestaltet werden kann. Die Anstandsdame übernimmt in diesem Bereich die Funktion einer Duenja (spanisch: Herrin) - sie beobachtet, leitet an und greift notfalls hilfreich ein. Die Beziehung zwischen Anstandsdame und Schützling ist in diesem Fall die einer Lehrerin zu ihrer Schülerin. All das erfolgt natürlich so diskret, dass der zu betreuende Herr nichts davon mitbekommt - es sei denn, er wünscht das.

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